Psychogramm zweier Frauen und eines dunklen Schattens
Silje Iversen wäre beinahe eine berühmte Fotografin geworden. Vor Jahren hatte ein Kunstbuchverlag ihren Bildband mit Portrait-Fotografien von Toten herausgebracht. Beinahe hätte sie ihre Bilder in Berlin ausstellen dürfen. Die Beziehung mit dem Künstler Tore, der dem Heroin verfiel, riss sie mit hinunter in den Abgrund. Erst als sie schwanger wurde, schaffte sie den Ausstieg aus dieser toxischen Beziehung. Silje blieb allein zurück mit ihrem Sohn Simon und zerstörten Träumen. Seitdem schlägt sie sich als Kellnerin durch und fotografiert für zahlende Kund:innen. Jegliche künstlerischen Ambitionen scheinen versiegt. Bis sie eines Abends von einer Kneipentour mit Freundin Ina nach Hause kommt und ein Graffiti auf einer Wand sieht: einen Pfeil mit einer Feder. Ohne das Silje es ahnt, beobachtet noch jemand diesen inspirierenden Moment.
Manche Motive, die ich fotografiere, schließen Türen auf. Sie gewähren mir Zugang zu Räumen, die ich nie zuvor betreten habe. Bereiche, die zwischen meiner Realität und der anderer Menschen liegen, wie Risse im Boden, hervorgerufen durch seismische Aktivität. (S. 26/27)
Katrine Haugen bewundert Silje schon seit ihrer Jugendzeit und ist entzückt, als sie sie zufällig im Zug trifft. Da Silje sie nicht erkennt, folgt ihr Katrine unbemerkt. Zwar ist sie zu schüchtern, sie anzusprechen, genießt jedoch das Spiel zu beobachten. Katrine, die tagaus tagein von ihrer Mutter gegängelt wird, fühlt sich selbstbewusst. Besonders nachdem sie ihr Äußeres dem der Fotografin angeglichen hat. Doch das reicht Katrine nicht. Sie möchte genau das tun, was Silje tut. Ihre Verwandlung fordert ein Todesopfer, als Katrine einen Tarot-Bildband in einem Antiquariat stiehlt, den Silje sich zuvor ausgeliehen hatte. Immer tiefer dringt Katrine in Siljes Leben ein, verwandelt ich in ihren dunklen Schatten.
Meine neue Frisur, die neue Haarfarbe, die Kleidung, die sagt: Schaut mich an, das bin ich!, anstatt: Nehmt mich bloß nicht wahr! (S. 97)
Gelungene Charakterstudien zweier norwegischer Frauen.
Bernhard Stäber präsentiert in „Dunkles Abbild“ zwei spannende Charakterstudien von Frauen in Norwegen, die sich gravierend voneinander unterschieden, die aber auch etwas gemeinsam haben: den Wunsch nach einem anderen Leben.
Silje und Katrine, Opfer und Täterin, erzählen abwechselnd in der Ich-Perspektive und in der Gegenwart. Lesende schlüpfen also selbst in die Rolle von Beobachtenden, die das Geschehen aus den Augen der Protagonistinnen erleben. Wir beobachten Silje, die allein den Spagat zwischen ihrer Verantwortung als Mutter und Ernährerin zu meistern hat. Und einen Moment erlebt, der ihr Hoffnung auf das Leben gibt, das sie sich wünscht. Diesen Moment erlebt auch Katrine, als sie Silje begegnet. Das Eindringen in Siljes Leben versteht sie als Selbstverwirklichung und genießt die Macht, die sie ausübt. Sonst ist ihr Leben und ihre Arbeit in der Gärtnerei fremdbestimmt. Durch die tyrannische Mutter, durch Menschen in der Vergangenheit, die ihr immer das Gefühl gaben, wertlos zu sein.
Eine Stalkerin und ein dunkles Geheimnis treten aus dem Hintergrund.
So liest sich der Roman streckenweise wie ein belletristischer über die Lebensrealität norwegischer Frauen im mittleren Alter, die in ihrer Jugend Träume von einem anderen Leben hatten. Dass wir uns in einem Thriller befinden, wird in Szenen deutlich, die wie warnende Zwischenrufe wirken. Szenen in denen Silje spürt, dass jemand hinter ihr her ist, Szenen in denen Katrine an den Abend in der Liehütte denkt. Und Lesende sich fragen: „Was ist dort mit ihr passiert?“
Der Autor baut diese Spannung mit leisen Tönen auf und lässt das Geschehen schließlich außer Kontrolle geraten. Ein alter Mann stirbt, weitere Menschen werden bedroht, entführt, verletzt und bangen um ihr Leben. Die Entwicklung einer frustrierten Frau zur Stalkerin, Psychopathin und Verbrecherin gelingt dem Autor exzellent. Gewollt und konstruiert wirken dagegen manchmal die Möglichkeiten, die Katrine für spontane Aktionen in die Hände fallen. Das richtige Betäubungsmittel und das richtige Werkzeug, auch das Wissen darum beides zu nutzen, sind zufällig vorhanden, wenn sie es benötigt.
Sprachliche Bilder so prägnant und schön wie Kunstwerke
Sie kann [..] diesen intensiven Beinahe-Augenkontakt mit der Kamera, der nicht die vierte Wand durchbricht und das Publikum tatsächlich ansieht, aber anzudeuten scheint, dass sie sich dessen bewusst ist, beobachtet zu werden – und selbst jeden Moment zu einer Beobachterin werden könnte, die aus dem Bild herausblickt.
(S. 59)
Ein guter Grund „Dunkles Abbild“ zu lesen, ist die wunderbar bildhafte, eindringliche, zuweilen gar kunstvolle Sprache, die Bernhard Stäber zelebriert. Mit intensiven Bildern und ausdrucksstarken Metaphern, auch solchen, die man googelt, weil man den Begriff aus einem anderen Kontext kennt, erschafft der Autor das, was man eine dichte Atmosphäre nennt. Eine gern genutzte Phrase, die...