Irgendwo in Mitteleuropa im 24. Jahrhundert: Unter einer schützenden Kuppel leben die Bewohner von Eos unbeschwert und sorgenfrei. Für alle wird gesorgt, sie können allen ihren Neigungen nachgehen, arbeiten wann und was sie wollen, lieben wann und wen sie wollen – bis die „Große Mutter“, die zentrale KI von Eos, verkündet, dass es Zeit zum „Austritt“ ist. Die Bewohnerin Lea begleitet ihre Freundin Mari, deren Zeit abgelaufen ist, zu ihrer Erlösungsfeier. Sie wird nun in ihre „finale Form“ gebracht, d.h. sie stirbt. Erst in diesem Moment erkennt Lea, dass sie und Mari gleichaltrig waren – auch für sie wird wohl bald das Ende ihres Daseins erreicht sein. Doch ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit ist Lea nicht bereit, diese Entscheidung der Großen Mutter so einfach hinzunehmen. Sie beschließt zu fliehen – auch wenn sie keine Ahnung hat wohin und ob das überhaupt möglich ist. Dann erfährt sie durch Zufall davon, dass „Etomi“ nicht nur eine Parfummarke ist, sondern „der Ort an dem alles ist, wie es sein sollte“. Lea ist total überrascht, denn die Welt außerhalb der Kuppelstadt, so wird behauptet, ist menschenleer und unfruchtbar. Das allerdings erweist sich schnell als Lüge. Eos ist von einem Ring aus geschäftigen, dreckigen, lebendigen Vorstädten umgeben, in denen alles produziert wird, was die Stadtmenschen für ihr Leben und ihren Luxus so brauchen. Allerdings ist das Leben in Aranus nicht halb so privilegiert wie in Eos. Dort gibt es nicht nur die Menschen, welche die komplexen Arbeiten verrichten, sondern auch Arbeitsklone mit nur rudimentären Hirnfunktionen, die als billige Sklaven herhalten müssen. Dazu kommen noch Cyborgs, die für Spezialaufgaben gedacht sind und die „Alphas“ in der Verwaltung. In Aranus lernt Lea erstmals Personen kennen, die nicht wie sie in Eos aufgewachsen sind. Zum Beispiel die kecke und vorlaute Ingenieurin Josa, eine Meisterin im Improvisieren, oder den Schlachthaus-Klon Nori, der ihr das Leben rettet und damit sein Schicksal mit dem ihren verknüpft. Und ganz langsam kristallisiert sich heraus, dass Lea einen Weg beschreitet, den die Große Mutter für sie angelegt hat. Sie soll, gemeinsam mit einem kleinen Team von Freunden, nach Etomi suchen – denn der Araneos-Komplex ist in großer Gefahr und benötigt dringend Hilfe … Damit haben wir in etwa den groben Rahmen, den Rosenberg für die Erzählung errichtet hat, doch das Eigentliche passiert in der Interaktion zwischen den Handelnden. Rosenberg beschreibt das Leben der Figuren sehr detailfreudig und psychologisch fundiert. Das reicht von den jeweiligen Sinneseindrücken und Gefühlen bis hin zu großartigen Inneren Monologen und glaubwürdigen Gesprächen und Diskussionen zwischen Freunden und Fremden, Geliebten und Feinden. Zudem wird deutlich erkennbar, dass sich die Persönlichkeiten im Lauf der Geschichte verändern, so etwa wenn Lea sich am Anfang noch hauptsächlich darum sorgt, wie ihr äußeres Erscheinungsbild ist, welches Parfum sie auflegen soll und ob sie jetzt eine oder zwei der Euphorie-Pillen einnehmen soll. Dagegen steht dann später eine verunsicherte, gequälte Seele, die sich fragt, ob es richtig war, einige ihrer liebsten Menschen mit in ihren persönlichen Kampf gegen die Große Mutter hineingezogen zu haben. Weit über diesen Hauptstrang der Erzählung hinaus reicht allerdings die Entwicklung, die der Arbeitsklon Nori nimmt: Von einem unsicher-ängstlichen Geschöpf, das (aus der Sicht der KI und der Menschen, denen es begegnet) offenbar fehlerhaft ist, wächst Nori zu einer wirklichen Persönlichkeit, die durch Beobachtung, Selbstbefragung und steter Neugier zur Erkenntnis ihrer selbst gelangt und die letztlich ihre eigenen Entscheidungen fällt. Natürlich (das Private ist immer auch das Politische) geht es in ETOMI auch um das große Ganze: Es gibt das gesichtslose Großkapital, normale Technikerinnen und Arbeiter, die stolz auf das von ihnen Geleistete sind, geklonte Arbeitssklaven ohne freien Willen, Cyborgs, die mit ihrer Programmierung kämpfen, bis es ihnen gelingt sie umzuschreiben, Künstliche Intelligenzen unterschiedlicher Stärke, die jedoch allesamt von ihrer Gottähnlichkeit überzeugt sind – und es gibt „System 5“, eine Guerilla-Gruppe von Außenseitern, die versuchen, eine Gleichstellung von Menschen, Klonen, Cybern, KIs und Tieren zu erreichen. Im Laufe der insgesamt 800 Seiten entwickelt sich vor dem Auge der Leser*innen eine hervorragend konstruierte, spannend erzählte und perfekt getimte Geschichte, in der sich vieles als Camouflage herausstellt, jede Motivation mehrfach hinterfragt werden muss – und Lea, Josa und Nori am Ende Ziele erreicht haben, die weit von dem entfernt sind, was für sie vorgesehen war oder sie selbst sich vorstellen konnten. Jol Rosenberg hat mit ETOMI eine moderne, „uneindeutige“ Utopie im Sinne Ursula K. Le Guins geschrieben. Einen Weltentwurf, in dem nur wenig vorbestimmt ist – und fast alles möglich. Das Setting und die Handlung haben den Anschein einer eher dystopischen Wirklichkeit, aber die Fig...