In dem 2019 erschienenen Roman „Kieloben“ der Autorin Karin Nohr geht es um die traumatische Erfahrung eines plötzlichen Todesfalls, der das ganze Leben auf den Kopf stellt und die so plötzlich Alleingelassene „kieloben“ schwimmen lässt. Hintergrund ist offenbar das persönliche Erlebnis der Autorin, ohne dass sich dieser Roman in den Bereich der aktuellen Autofiktion einreihen lässt. Karin Nohr geht es um grundsätzliche Fragen, nicht um die Darstellung des eigenen Lebens.
Ihre Hauptfigur Inga sucht nach Wegen des richtigen Trauerns, des Umgangs mit Verlusten und dem Suchen nach einem Neuanfang, um den „Kiel“ wieder unter Wasser zu bekommen.
Die 55-jährige Inga muss nicht nur den inzwischen sechs Jahre zurückliegenden Tod ihres Mannes verkraften, sondern nun auch den zumindest temporären Verlust des einzigen Sohnes, der sich nach dem Abitur nach Down Under davonmacht, möglichst weit weg von der Mutter. Statt sein Einser-Abitur für ein Medizin-Studium zu nutzen, hat er zum Leidwesen der Mutter die Idee, Kapitän zu werden.
Nach dem Tod ihres Mannes hat sie die gemeinsame Praxis verkauft und eine Stelle bei der Rentenversicherung angenommen. Sie hat gehofft, mit „Akten statt Patienten“ vergessen zu können. Das aber erweist sich als Irrweg ist, der keine neuen Perspektiven eröffnet. Nicht neue Sicherheit ist der Weg, sondern Offenheit für Neues, auch wenn man sich in unsicheres Terrain begeben muss, mit der Gefahr, sich wiederum „kieloben“ zu finden.
Auch die Rückbesinnung auf die Familie ist keine Alternative, denn ihre Brüder haben es beide nicht einmal geschafft, ihrer Einladung zur Feier ihres 55. Geburtstages zu folgen.
Sie nimmt eine Auszeit, um sich auf sich selbst zu besinnen. Ganz alleine begibt sie sich in die Einsamkeit eines Fischerdorfes in Nordnorwegen. In dieser Gegend war ihr Vater während des Krieges als Leutnant der Marine stationiert. Inga nimmt das zum Anlass mit den Brüdern per E-Mail Kontakt aufzunehmen. Es zeigt sich, dass die drei Geschwister sehr unterschiedliche Erzählungen der Rolle des Vaters kennen, die von heldenhaften Taten einerseits und Kriegsverbrechen andererseits handeln. Die E-Mail-Kommunikation wird zu einer generellen Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte, mit der unterschiedlichen Wahrnehmung der Eltern, der unklaren Krankheit des Vaters, der Härte der Mutter und ihrer unklaren Beziehung zum Pfarrer.
Der Austausch führt jedoch nicht zu der von Inga erhofften Wiederannäherung der Geschwister, eher zur Erkenntnis, dass die Lebenswege und Lebenseinstellungen zu weit auseinandergehen. Es bleibt die nostalgische Erinnerung an gemeinsam geschmetterte Lieder in der Kirche und an Segeltouren mit dem Vater, aber die gemeinsame Vergangenheit trägt nicht für eine neue Zukunft.
Die Einsamkeit ist jedoch auch nicht der Weg, zumal ein Hexenschuss ihr signalisiert, dass sie auf dem Holzweg ist. So bricht sie das Experiment ab und reist zurück nach Berlin.
Da tut sich für Inga eine neue Möglichkeit familiärer Bindung und Nähe auf. Aus Norwegen meldet sich eine Frau, die sich als Halbschwester zu erkennen gibt aus einer Beziehung, die Ingas Vater vor seiner Hochzeit mit einer jungen Norwegerin hatte. Doch auch hier bleiben die Versuche einer intensiveren Annäherung im Unverbindlichen stecken, zu verschieden sind die Lebensläufe, zu vage die mögliche familiäre Verknüpfung.
Inga erkennt, dass der Weg der Trauerbewältigung nicht über die Vergangenheit, sondern nur über ihren eigenen Weg nach vorne geht.
Sie wagt es, alles hinter sich zu lassen und einen beruflichen und privaten Neuanfang zu riskieren.
Aus der Zeit des Alleine-Seins nimmt sie mit, dass für sie nur noch Beziehungen auf Augenhöhe in Frage kommen. Die Erinnerung an eine Jugendliebe, einen verheirateten, zwanzig Jahre älteren Mann, zeigt ihr eine junge Frau, die bereit ist, sich der Führung des Mannes unterzuordnen, wie sie es beim Vater besonders auf den Segeltouren gelernt hat. Auch dieser Mann ist Segler und hat das Kommando. Sogar in ihrer Ehe musste sie darum kämpfen, sich gegenüber ihrem dominanten Mann durchzusetzen.
Nun gibt es wieder einen Segler, aber sie ist sicher, dass er nicht mehr das Kommando übernehmen wird. Ob das gelingt, bleibt zwar offen, aber Inga hat zu neuer Stärke gefunden. Das zeigt sich unter anderem darin, dass sie loslassen kann. Ihren Sohn lässt sie seinen eigenen Weg gehen, er ist nicht mehr die Hoffnung auf Tröstung an ihrer Seite im Elternhaus. Ebenso kann sie die Brüder loslassen wie auch die neue Halbschwester, deren tatsächliche Identität als Verwandte auch nur eine Erzählung ist. Es kann auch ganz anders gewesen sein.
So geht dieser Roman über das Thema der Trauer hinaus. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Suche nach Wahrheit, die sich als vergeblich erweist angesichts so vieler verschiedener Erzählungen. Schon die eigene Vergangenheit ist uneindeutig, verklärt, falsch erinnert oder auch vergessen. Es sind die Gefühle, die bestimmte Erlebnisse in dem Kind und der Heranwachsenden...